12 Okt

Lesbos: Status Quo Vadis

Wenn ich hier auf Lesbos die Nachrichten aus Deutschland lese, überkommen mich gemischte Gefühle. Einerseits spüre ich, wie sich die mediale Daueraufregung der letzten Jahre nun neuer Themen bemächtigt hat, andererseits kann ich gut verstehen, dass sich viele Menschen angesichts der anstehenden Herausforderungen Sorgen machen. Was mich vermutlich stört, ist eher die Aufregung als das sich Beschäftigen mit schwierigen Situationen oder gar Krisen. Nun schreibe ich diese Zeilen auf einer Insel, die sich seit Jahren in einer Dauerkrise befindet und zwischen einer Bevölkerung, die gelernt hat gelassen damit umzugehen. Sie hat gelernt, dass die Aufregung die Probleme nicht verbessert oder gar
löst. Grundsätzliche Zuversicht, das sich organisieren in kleinen Zusammenhängen und ein bisschen Eskapismus trägt hier zur Gelassenheit bei.
Auf Lesbos bin ich seit mehr als 20 Jahren immer wieder, seit 2012 produzieren wir ein solidarisches Bio-Olivenöl (eine Spende für Lesbos ist im Preis enthalten) als griechisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt in Solidarischer Landwirtschaft.
In dieser Zeit wurde die „griechische Wirtschaftskrise“ (eigentlich Bankenkrise) abgelöst von der „Flüchtlingskrise“, die wiederum abgelöst wurde von der „Tourismuskrise“, von der man aber nur auf der Insel etwas erfährt. Nachdem in den Jahren 2015/2016 jeweils bis zu 80.000 Menschen über das Mittelmeer nach Lesbos kamen, mit den auch in Deutschland berichteten Folgen, strichen sämtliche Reiseveranstalter und (deutsche) Fluglinien Lesbos als Reiseziel aus ihren Programmen.
Zu groß war die Sorge, dass Touristen und Geflüchtete aufeinander treffen könnten. Ein offenbar unerwünschter, vielleicht sogar Angst erzeugender Kontakt, wenn auch einer, der wahrscheinlich für mehr Verständnis füreinander hätte sorgen können.
Das Ergebnis für die Insel war allerdings ein Schlimmes. Der Tourismus, der auf Lesbos ohnehin nicht sehr ausgeprägt war, fiel zurück auf das Niveau der 1960er Jahre – die Insel hatte nun das Stigma der „Flüchtlingsinsel“. Wer aus Deutschland nach Lesbos reisen wollte, musste lange Wege und hohe
Kosten dafür auf sich nehmen und das wollten die Allerwenigsten.
Inzwischen kommen dank des Abkommens der EU mit der Türkei (und Zahlungen in Millionenhöhe) sowie einer rücksichtslosen Pushback-Politk durch die griechischen Behörden (und Rückendeckung durch Frontex) kaum noch Geflüchtete auf Lesbos an. Nach den vielen Skandalen und der unmenschlichen Überbelegung der hiesigen Flüchtlingslager sind aktuell kaum noch Geflüchtete auf Lesbos. Man hat
das Leid und die gewollte Abschreckung offenbar von der Insel auf die See verlegt. In diesem Jahr ist der Tourismus erstmalig seit 2016 wieder gestiegen, es droht ja auch nicht mehr auf geflüchtete Menschen zu treffen. Es geht also für Lesbos endlich ein bisschen bergauf, es macht sich wieder Hoffnung breit, auch wenn die Fortschritte keine großen sind.
Wir sind gerade in den Vorbereitungen zur Olivenernte der Saison 2022/2023. Es braucht noch etwas Sturm und ein bisschen mehr als 2 Regentage, dann kann unsere Frühernte beginnen. Der Sturm holt die etwas angeschlagenen Oliven von den Bäumen bevor die Netze gelegt werden, damit sie die Qualität des Frühöls nicht beeinträchtigen. In einem Frühöl sind besonders viele gesunde Polyphenole, der
Geschmack ist grasig und grün, man kann es problemlos auch höher erhitzen als „normale“ Olivenöle – genau das ist es, was wir gerne in höchster Qualität produzieren möchten.
Der Vorverkauf der Ernteanteile läuft bereits. Auf unserer Website www.platanenblatt.de kann schon jetzt das Olivenöl bestellt werden, dass dann im Februar/März 2023 zur Auslieferung kommt. Wie in den letzten Jahren wird es auch wieder einen Abholtag in Wangen im Allgäu geben, auf den wir uns
schon sehr freuen. Durch den Vorverkauf finanzieren wir die Ernte auf Lesbos zu einem Zeitpunkt, zu dem das Geld wirklich gebraucht wird. Die Erntehelfer werden, der Tradition gemäß, wöchentlich entlohnt. Dabei achten wir selbstverständlich auf eine faire Entlohnung, die deutlich über dem ortsüblichen Tagessatz von EUR 30,00 (!) liegt. Auf der Website und in den sozialen Medien kann man von Deutschland
aus den Fortschritt der Ernte begleiten oder sich im gemeinnützigen Verein Platanenblatt e.V. engagieren. Das ist unser kleiner Beitrag um auf Lesbos mehr Hoffnung zu schaffen.
Ralf Randel

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